Germany 3 Points: Der ESC – Musikzirkus oder Provokation?

Zu den Millionen Zuschauern des Eurovision Song Contest zählte am vergangenen Sonnabend auch der Torgelower DJ Ulrich Blume. Frust oder Begeisterung? Lesen Sie selbst:

Satirische Kolumne von Ulrich Blume

Gleich vorneweg: Man durfte wunderbare, außergewöhnliche und kraftvolle junge Stimmen erleben, unglaubliche Talente – auch 2021 in Rotterdam.

Aber wie in jedem Jahr auch das komplette Gegenteil: Ideenlose Nichtskönner aus der musikalischen Mittelklasse, die mit schrillen Kostümen, peinlicher Performance, skurrile Gender-Botschaften oder einfach nur Protest gegen irgendwas auf sich aufmerksam machen müssen. Und spätestens im neuen Jahrtausend kann man beobachten, dass sowohl die Juroren der Teilnehmerländer als auch das zum Handy greifende Publikum sich voller Inbrunst zunehmend von der zweiten Gruppe vertreten fühlt.

Mein Tipp deswegen: ESC schauen – JA, aber dann unmittelbar nach dem letzten Beitrag, bevor es mit dem Voting losgeht, bitte auf NETFLIX wechseln, ganz schnell!

In diesem Jahr haben sich die „Europa-Jurys“ nun auf Kunst geeinigt und mit überzeugender Mehrheit festgelegt, dass es Zeit werde, dem Chanson den Zeitgeist zuzusprechen und damit die Mainstream-Popmusik vom Sockel zu stoßen. Damit standen dann Frankreich und die Schweiz mit kaum noch anfechtbarem Abstand an der Spitze der Euro-Charts.

Ja, und dann kam die schallende Ohrfeige des Publikums: 318 Punkte für eine italienische Krawall-Kapelle im Glamrock-Outfit der 70er, mit Plateauschuhen, nietenbesetzten Schlaghosen aus Maskenballseide, Kajal beschmierten Augen und viel nackter Haut. Eine etwas verunglückte Mischung aus Sweet, Alice Cooper und dem Image von David Bowies Kiffer-Vergangenheit aus den Zeiten von Christiane F. Aber das wäre o.k. – ich liebe die 70er!

Leider hatte der musikalische Beitrag nichts davon. Das unsymmetrische Umher-Gerenne auf der Bühne, was eher wie missglücktes Pogen aussah, war leider das Einzige, was von dieser Nummer im Kopf geblieben ist. „Melodie und Rhythmus“ hieß mal eine DDR-Zeitschrift, an die ich mich erinnere. Von beidem hat der Siegertitel des diesjährigen ESC leider nichts abbekommen.

Auch die zweite Klatsche, die die Voting-Community der Juroren-Vorgabe erteilte, hatte leider den musikalischen Stellenwert einer drittklassigen Punkband aus Londons düsteren Vororten der 80er. Die ukrainische Elektronummer, bei der man nach der zweiten Strophe den Ton leiser drehen musste, weil sich die kreischende Stimme der von giftgrünem Plastiknerz umschlun-genen Frontfrau dermaßen ins Hirn fraß, dass es Nervenschmerzen verursachte, wurde mit 267 (!!!) Punkten in einem Maße überbewertet, dass man eigentlich nicht mehr nachvollziehen konnte, woraus diese Zuneigung eigentlich erwachsen sein könnte. Das vollkommen sinnfreie Gehopse der im Hintergrund als Folklore-Boyband verkleideten Deppenbrigade zwischen weißen Plastikzweigen kann es wohl nicht gewesen sein.

Was gab es denn noch so im Kuriositätenkabinett des ESC auf der sicher sündhaft teuren Multimediabühne in Rotterdamm zu bestaunen:

– ein russisches Emanzipationsmeisterwerk mit einer aufgeblasenen Matroschka-Puppe, die sich  dann als rappender Pumuckl entpuppte,

– die wuchtige Sängerin aus Malta, deren fantastische Stimme komplett ins Hintertreffen geriet,   weil man immer nur wie gebannt auf das vollkommen missglückte Outfit starren musste oder

– die 3-Wetter-Taft-Werbung der 3 Serbierinnen mit dem etwas zu freizügigen Dekolleté, bei denen man wie hypnotisiert abwechselnd auf die Haarpracht und die geschwollenen Brüste starren musste und dabei gar nicht mehr bemerkte, wie verdächtig diese Nummer nach einem Cover von „Macarena“ klang.

Noch ein Wort zu Deutschland.

Deutschland wird wohl, seit es in der europäischen Finanzpolitik nicht gerade für Sympathien gesorgt hat, in den nächsten Jahren keine Chancen mehr kriegen, egal wie gut oder schlecht die musikalischen Beiträge auch sein mögen. Und noch einen Punkt gibt es, in dem sich Deutschland von allen anderen Teilnehmerstaaten unterscheidet: Die Deutschen lieben sich und ihr Land nicht mehr. Nationalstolz, mit dem alle anderen Beiträge immer wieder mit beinahe hymnenartigen Balladen auf ihre Folklore verweisen, gehört bei uns mittlerweile zu den absoluten NoGoes im Vokabular. Deswegen haben auch die Kompositionen unserer Beiträge immer etwas, was so gar nichts mit Deutschland zu tun hat. Mal kommen wir mit einer Country-Nummer aus dem Zauberkasten (konkurrenzlos, weil ja Texas nicht teilnehmen kann), dann wieder mit sowas wie Soul (soll amerikanisch klingen, ist es aber nicht) oder jetzt halt mit einem Skiffle, den ich, offen gesagt, gar nicht so übel fand. „I don`t feel hate“ war jetzt vielleicht nicht unsere Meisterleistung, aber von der Individualität, von der Witzigkeit des Vortrags und der lockeren Fröhlichkeit des Songs her, hätte ich ihm bei der teilweise wirklich peinlichen Konkurrenz wenigstens Platz 10 gegönnt.

Jendrik – ein schlauer Typ, der mal nicht durch Dieter Bohlens oder Stefan Raabs Talentemaschine ausgeschieden wurde, sondern als Musical-Darsteller seine musikalische Erfahrung ganz allein sammeln musste.

Na egal – vielleicht sollten wir mal tatsächlich was wirklich Deutsches zum ESC schicken, vielleicht die Stimmungskapelle „Die Draufgänger“ mit Lederhosen und Bayernhütchen (ach nee, die sind ja aus Österreich). Na dann eben die Wildecker Herzbuben oder wenn wir auf sicheren Sieg setzen wollen, dann in jedem Fall Rammstein, am besten mit dem Song „Mann gegen Mann“, dann gibt’s richtig was zu diskutieren.

Aber bitte nicht nochmal Lena, dann lass uns lieber weiter verlieren.

Hörtipp eines alten weißen Mannes vom diesjährigen ESC:

– TUSSE „Voices“ (Schweden)

– JEANGUU MACROOY „Birth of a new age“ (Niederlande) oder

– TIX „Fallen Angel“ (Norwegen)

Aber was weiß ich schon?

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